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AutorenbildAntonia Siep

Von der Geburt bis zum ersten Start – wie wächst ein Vollblut auf?

Diesen Artikel hatte ich ursprünglich 2018 mal für einen externen Blog geschrieben, der aber inzwischen offline genommen wurde. So veröffentliche ich ihn jetzt hier, da ich denke, dass er im Bereich der Vollblut-Fans, Ex-Galopper-Besitzer und eventuell auch sonst einige Fragen beantwortet. Es gibt nach wie vor reichlich Kritikpunkte im Galoppsport (und in allen anderen Sparten des Reitsports), darüber will ich hier keineswegs hinwegtäuschen oder etwas schön reden. Ich möchte lediglich ein wenig Information zu den Abläufen geben, denn die sind doch zum Teil deutlich anders als im Breitensport. Auch ist es wahrscheinlich sinnvoll zu erwähnen, dass ich über den deutschsprachigen Raum und mir persönlich bekannte Lokalitäten spreche, woanders mag alles anders sein. Sollten Fragen aufkommen, schreibt mir einfach, ich antworte gerne :-) Ab Mitte Januar steigt die Spannung auf den Vollblutgestüten. Die Abfohlsaison beginnt, die Decksaison startet im Februar und damit steht das erste Halbjahr voll im Zeichen des Nachwuchses. Bevor der anfängt zu purzeln, galoppieren kugelrunde Mutterstuten über die grossen Weiden der Gestüte. Im zweiten Halbjahr werden in der nördlichen Hemisphere weder Fohlen geboren noch Stuten gedeckt, die Fohlen werden möglichst früh im Jahr geboren (in der südlichen Hemisphere gilt hierfür das zweite Halbjahr als Abfohl- und Decksaison).


Bereits am ersten Tag geht es für den Nachwuchs mit seiner Mutter stundenweise auf die Koppel, nach wenigen Tagen sind die beiden ganztags in der Herde der Mutterstuten und Fohlen. Einige Stuten verlassen mit ihren Fohlen vorübergehend das Gestüt für eine nächste Bedeckung, andere kamen vor der Geburt ihrer Fohlen, um während der ersten Rosse nach der Geburt von den hier stationierten Hengsten bedeckt zu werden.

Grundsätzlich bleibt aber die Mutter-Kind-Herde für das nächste halbe Jahr so zusammen bei ganztägigem Weidegang. Nachts stehen die Stuten mit ihren Fohlen in grossen Boxen. Morgens und Abends werden die Mutter-Kind-Gespanne zur Weide bzw. zum Stall geführt, die Fohlen haben so ab dem ersten Tag einen intensiven Kontakt zum Menschen, lernen das Fohlen-ABC und wachsen artgerecht in einer grossen Herde mit vielen Spielgefährten auf riesigen Weiden auf.

Wenn der Nachwuchs im Herbst etwa ein halbes Jahr ist, erfolgt das Absetzen und die Geschlechter-Trennung. Für ein weiteres Jahr dürfen die nun in Stuten und Hengste getrennten Gruppen sich täglich auf weitläufigen Wiesen austoben. Die Grundlagen des Pferde-Knigge werden vertieft und bis zum Herbst des Folgejahres sind die Jährlinge nicht nur halfterführig und kennen Schmied und Tierarzt sondern diejenigen, die über Auktionen verkauft werden, werden auch hierauf gewissenhaft vorbereitet – natürlich nicht nur, damit die Menschen gefahrlos mit einem Jährling an der Hand in den Auktionsring treten können sondern auch, um den Stress für die Pferde auf der Auktion möglichst gering zu halten.



Meist im Spätherbst, im Alter von etwa anderthalb Jahren wechseln Vollblüter in den Rennstall, um dort auf ihren Job als Rennpferd vorbereitet zu werden. Klingt nach Kulturschock? Sicher ist das nicht ganz von der Hand zu weisen, doch muss man hier berücksichtigen, dass die Vollblüter bis zu diesem Zeitpunkt durchgehend engen Kontakt zum Menschen hatten und heute haben auch viele Rennställe Weiden, so dass die Jährlinge zu ihrem Start ins Arbeitsleben weder auf Koppelgang noch auf den Kontakt mit Artgenossen verzichten müssen.

Die Vorbereitung des Rennpferdes auf den Rennsport beginnt – wir nehmen mal an, es ist November. In den mir bekannten Rennställen wird hierbei sehr individuell auf den Charakter des einzelnen Pferdes eingegangen, daher ist auch der zeitliche Ablauf individuell je nach psychischer und körperlicher Reife des Pferdekindes aber die Vorgehensweise an sich ist natürlich ähnlich. Wir gehen vom Optimalfall aus. Das Pferd stellt sich gut an, ist weder psychisch noch körperlich überfordert, hat keine gröberen Schwierigkeiten im Wachstum und ist auch sonst gesund. Es ist kein harter Winter mit Dauerfrost und es kann somit durchgehend gearbeitet werden.

Zuerst lernen die Pferde mal die Führmaschine kennen. Teilweise zweimal am Tag gehen sie Schritt in der Maschine, wobei sie ganz zu Anfang hierbei nicht alleine gelassen sondern von einem Zweibeiner begleitet werden, der ihnen so eventuelle Unsicherheiten nehmen kann. Bereits in der ersten Woche wird angefangen, die Pferde an einen Gurt zu gewöhnen. Sobald sie die Bewegungsabläufe in der Box kennen und tolerieren, lernen sie, angebunden zu stehen während der Gurt angelegt wird.


Mit dem Gurt und einem Kopfstück mit Gebiss geht es als nächstes weiterhin in die Führmaschine. Wenn das Pferd soweit ist, wird der Gurt durch einen Sattel ersetzt und im nächsten Schritt werden die Bügel herunter gelassen. Die jungen Pferde gewöhnen sich so ohne Einwirkung daran, ein Gebiss im Maul zu haben und lernen das Gefühl am Bauch baumelnder Steigbügel kennen. Das folgende Bild sehe ich ein bisschen ambivalent, denn natürlich kann Bocken auch durch Unwohlsein hervorgerufen werden und muss nicht immer ein Freudenhüpfer sein, aber so ein Bocksprung in der Führmaschine ist wenigstens unschädlich für Pferd und Reiter.

Inzwischen sind je nach Pferd mindestens zehn Tage vergangen und nun geht es daran, dem Youngster das Reitergewicht zu zeigen. Zur Ausrüstung kommen der Halsriemen und die Zügel hinzu. Ein Reiter legt sich auf das Pferd und eine weitere Person führt im Schritt.


Anreiten Englisches Vollblut

Ein paar Tage später kommt der Zeitpunkt, zu dem sich der Reiter erstmals in den Sattel schwingt. Immer noch wird das Pferd im Schritt geführt, die Arbeitseinheiten sind kurz. Kombiniert wird dies mit weiterem Führmaschinentraining ohne Reiter, hier auch schon im Trab mit Sattel und baumelnden Bügeln.

Als nächstes kommt das Führpferd ins Spiel. Ein erfahrenes und verlässliches Pferd läuft vor dem Jungspund mit Reiter und Führperson. Die Pferde lernen hier die Abläufe kennen, die in den nächsten Jahren zur Routine werden. Ein Lot besteht fast immer aus mehreren Pferden, die aufgereiht wie eine Perlenkette gemeinsam ihr Training absolvieren.



Sitzt all dies nun auf dem Hof im Rennstall, wird in den Trabring gewechselt. Für die ersten Einheiten hier bleibt ansonsten alles gleich, Führpferd vorneweg, Youngster mit Reiter und Führperson hinten dran und auch bei den ersten Trabschritten bleibt ein Mensch am Führstrick.


Etwa vier bis sechs Wochen nach Ankunft im Rennstall gehen die zukünftigen Rennpferde erstmals auf die Rennbahn. Dem Führpferd folgend werden auf der Geraden erste kleine Galoppeinheiten geritten und jeweils im Bogen wird wieder getrabt.


Nach zwei bis sechs Monaten im Rennstall geht ein Rennpferd einen ersten ruhigen Canter.


Im Frühsommer stellt sich dann so langsam heraus, welches Pferd sich bereits für einen Start als Zweijähriger anbietet. Das betrifft lang nicht alle Pferde eines Jahrgangs und auch und gerade hier wird sehr sorgfältig auf Physis und Psyche des einzelnen Pferdes geachtet. Ist nun ein ausgesprochener Zweijähriger dabei, fängt man an, ihn an die Startmaschine zu gewöhnen.


In der Regel steht irgendwo auf dem Trainingsgelände eine fest installierte Vorrichtung, die man immer mal in das Training integrieren kann. Zunächst wird einfach durchgeritten im Schritt. Die ernsthaften Einheiten an der Startmaschine, nachdem sie mehrmals durchritten wurde, beinhalten dann ein Schliessen der Türen vor und hinter dem Pferd. Die erste Übung ist das Warten. Die Pferde lernen eine längere Zeit (ca. 5 – 10 Minuten) in der Startmaschine zu stehen und dabei ruhig zu bleiben. Gehen dann die vorderen Türen auf, darf das Pferd die Startbox zunächst in einem Tempo nach seinem Geschmack verlassen – auch im Schritt. Die Pferde hier zu bedrängen wäre fatal, das Abspringen lernen sie früher oder später alle. Wichtig ist hier wirklich, die Startbox für das Pferd nicht zu einem Extra-Stressfaktor zu machen.


Im folgenden Video seht Ihr, wie im Pre-Training bei Godolphin ein erfahrenes Pferd den Youngsters in der Startmaschine hilft.


Funktioniert das Betreten der Startbox, Warten bei geschlossenen Türen und Abspringen beim Öffnen verlässlich, wird die Ständerstartprüfung durch den zuständigen Rennverein abgenommen und im Pass vermerkt.


Nun ist unser Youngster bereit für seinen ersten Start in einem echten Rennen. Wird ein passende Aufgabe gefunden, wird noch vor dem Termin das Verladen und idealerweise auch das Fahren geübt, so dass am Tag x in der Theorie alles sitzt. Das Pferd ist sorgfältig vorbereitet und es kann losgehen.


Der erste Start eines Pferdes ist dann auch für das zweibeinige Personal eine spannende Geschichte. Wie verkraftet der Debutant die Reise, wie findet er sich ausserhalb der gewohnten Umgebung zurecht? Fühlt sich das Pferd in der Gastbox wohl, wie reagiert es auf Publikum am Führring und an den Rails? Ist dann der Aufgalopp, der Start und das Rennen an sich erfolgreich absolviert, fällt die Anspannung auch vom Personal langsam ab. Wie es nun mit der Rennpferdekarriere weiter geht, hängt wieder vom einzelnen Pferd ab – hat das Pferd nicht viel Substanz auf der Reise und im Rennen gelassen, frisst es normal, ist im Training nicht auffällig und insgesamt körperlich gesund, fasst der Trainer den nächsten Start ins Auge.


Aus eigener Erfahrung als Besitzerin von zwei Vollblütern und auch aus meiner therapeutischen Erfahrung mit aktiven und Ex-Galoppern kann ich sagen, dass so ein Vollblut sicher oft ein wenig anders "zu bedienen" ist, als ein Pferd, welches für den Breitensport gedacht war. Wenn man sich aber der Unterschiede in Aufzucht und Ausbildung bewusst ist, ist das schon die halbe Miete. Wenn du Fragen zum Vollblut hast, einen Ex-Galopper besitzt oder einfach neugierig bist, melde dich gerne jederzeit hier!


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